1. Europa im Chaos – Die Welt nach dem Jahr 1000
Wenn Sie wenige Jahrzehnte nach dem Jahr 1000 durch Europa – insbesondere durch Frankreich – gereist wären, hätten Sie sich vermutlich über das Chaos gewundert, das sich über den Westen gelegt hatte. Der Erste Kreuzzug, besonders der sogenannte „Volkskreuzzug“ unter Peter dem Einsiedler, endete in einer Tragödie: Tausende Pilger starben, noch bevor sie das Heilige Land erreichten.
Mitteleuropa war zeitweise wehrhaft, doch wechselhaft in seinen Erfolgen gegen Angriffe von Sarazenen und Normannen. In Frankreich verhinderten innere Machtkämpfe unter weltlichen und kirchlichen Würdenträgern eine einheitliche Politik. Nur die Klöster bewahrten Frieden und geistige Ordnung. Der rasche Aufstieg des Islam, der neuen Religion Mohammeds, stellte aus Sicht des Westens eine existenzielle Bedrohung dar.
2. Die Gründung des Templerordens
Die Gefahren für christliche Pilger im Heiligen Land nahmen zu. Überfälle, Entführungen und Massaker auf den Pilgerstraßen waren an der Tagesordnung. 1120 schlossen sich neun Ritter unter der Führung von Hugues de Payens zusammen. Ihr Ziel: der Schutz der Pilger in Palästina. König Balduin II. von Jerusalem überließ ihnen einen Teil der alten Stallungen im Tempelbezirk – daher der Name: Ritter des Tempels oder Templer.
3. Kirchliche Anerkennung und Aufstieg
Der Thron Balduins II. wackelte, und er entsandte Hugues de Payens zu Papst Honorius II., um einen neuen Kreuzzug zu erbitten. 1128 fand in Troyes ein Konzil statt, an dem auch Bernhard von Clairvaux teilnahm – der mächtige Abt und geistige Führer der Zisterzienserbewegung. Dort wurde der Templerorden offiziell anerkannt und erhielt seine erste Ordensregel.
1148 erlaubte Papst Eugen III. den Templern, auf der linken Seite ihres weißen Mantels ein rotes Kreuz zu tragen – das Symbol des Opfers und des göttlichen Auftrags. Ihre Fahne, baussant genannt, war schwarz-weiß geteilt: Zeichen des dualistischen Kampfes zwischen Licht und Dunkelheit, Glaube und Gewalt.
Hugues de Payens entwickelte den Orden zu einer Institution, die der zerfallenden Ritterschaft des Westens ein neues Ideal gab – jenseits von Gier, Blutdurst und Ruhmsucht.
4. Struktur, Macht und Einfluss
Der Templerorden spiegelte mit seiner Organisation die geistigen Sehnsüchte der Zeit: Armut, Nächstenliebe, Ordnung im Chaos, Disziplin und Kampf im Namen Gottes. Unterstützt von Rom und begünstigt durch juristische Sonderrechte, wuchs der Orden im Osten wie im Westen.
Die Templer bauten Burgen, Kommenden, Schatzkammern und Befestigungen. Sie gruben Tunnel, errichteten Schmieden und Bauernhöfe, gründeten Manufakturen und sogar Banken. Bald unterhielten sie eine eigene Handelsflotte. In ganz Europa verfügten sie über ein engmaschiges Netz wirtschaftlicher, militärischer und spiritueller Stützpunkte – und wurden zu einer der mächtigsten Organisationen ihrer Zeit.
5. Inneres Leben und mystische Ordnung
Parallel zu ihren weltlichen Aktivitäten pflegten die Templer ein reiches spirituelles Leben. Die Zahl Drei hatte besondere Bedeutung: Dreimal im Jahr wurde gebeichtet, dreimal pro Woche Essen an Bedürftige verteilt. Drei große Feiertage – Dreifaltigkeit, Pfingsten, Johannestag – prägten ihr religiöses Jahr. Weihnachten und Ostern hatten vergleichsweise geringe Bedeutung.
Die Templer verstanden sich nicht als Diener weltlicher Herren – weder Papst noch König standen über dem Orden. Sie handelten unabhängig, selbstbewusst und in tiefer Überzeugung, dem Willen Gottes zu folgen – nicht dem von Menschen.
6. Der verborgene Anspruch: Einheit der Religionen
Im Osten begannen die Templer, mehr als nur militärische Kämpfer zu sein. Es scheint, als hätten sie versucht, die religiösen Gegensätze zwischen Christen und Muslimen zu überbrücken. Ihre Vision reichte weit über die Politik hinaus: Sie strebten nach einer Versöhnung der Religionen – nach einem „größeren Ganzen“, das Glaubensrichtungen nicht spaltet, sondern verbindet.
Vielleicht war dies eines der größten Mysterien des Ordens: der Versuch, eine Form des Christentums zu leben, die offen, dialogfähig und gleichzeitig standhaft war. Ein gefährlicher Gedanke in einer Zeit, in der Abgrenzung und Fanatismus das Denken bestimmten.
7. Der Beginn des Falls
Der unaufhaltsame Aufstieg der Templer rief Neid und Angst hervor – besonders bei weltlichen Herrschern. Mit dem Verlust Jerusalems 1244 und dem Fall von Akkon 1291 endete die politische Präsenz des Westens im Heiligen Land. Die Templer zogen sich nach Zypern, Sizilien und Frankreich zurück.
In Frankreich geriet das Königreich unter Philipp IV. („der Schöne“) in eine wirtschaftliche Krise. Als 1306 Aufstände in Paris ausbrachen, suchte der König sogar zeitweise Schutz beim Großmeister im Tempelhaus. Für einen machtbewussten Herrscher wie Philipp war dies eine Demütigung – und der Beginn seiner Rache.
8. Verfolgung, Schauprozesse und Ende
Am 13. Oktober 1307 wurden die Templer in ganz Frankreich auf einen Schlag verhaftet. Der König hatte geheime Anweisungen über Nacht an seine Beamten verschickt. Die Brüder wurden ohne Gegenwehr festgenommen, gefoltert, zu Geständnissen gezwungen – und ebenso schnell zu Widerrufen gebracht. Die Anklagen: Blasphemie, Götzendienst, Homosexualität – alles, was das Volk erschrecken und empören konnte.
1312 hob Papst Clemens V. mit der Bulle Vox in excelso den Orden auf – ohne eine Verurteilung. Ein geplanter Konzil, der die Wahrheit hätte klären sollen, wurde nie einberufen.
9. Tod des Großmeisters – aber nicht des Geistes
Am 18. März 1314 wurden Jacques de Molay, der letzte Großmeister, und Geoffroy de Charnay öffentlich in Paris verbrannt – auf der Île de la Cité, direkt gegenüber der Kathedrale Notre-Dame. In den Flammen rief Molay seine Henker vor Gottes Gericht. Der König und der Papst starben nur kurze Zeit später.
Doch mit dem Scheiterhaufen wurde nur die Hülle des Ordens zerstört. Der Geist der Templer – ihre Botschaft von Einheit, Ordnung und spiritueller Tiefe – überdauerte.